Die Wissenschaft ist der grösste Feind des neuartigen Coronavirus. Während unsere Gesellschaft eine vorläufige Bilanz über die schädlichen Folgen der Pandemie zieht, setzen wir unsere Hoffnung in die Forschung. Dies ist nach wie vor erlaubt. Wir denken darüber nach, wie wir Herdenimmunität erreichen können, ohne unser Gesundheitssystem zu überlasten, wie wir einen Impfstoff finden und zulassen können oder mit welchen Strategien sich eine zweite Welle der Pandemie vermeiden lässt. Die Wissenschaft steht bei all diesen Szenarien im Zentrum. Sie ist allgegenwärtig auf den Titelseiten der Medien und sitzt sogar mit unserer Regierung an einem Tisch.
Anfang April 2020 ernannte der Bundesrat ein hochrangiges Gremium, das ihn in Form einer Task Force berät. Zweifellos trug die vielfältige Kritik, welche die Wissenschaftsgemeinde im März geäussert hatte, zu diesem Entscheid bei. Das Wichtigste ist aber, dass sich politische Entscheidungsträger und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jetzt über die Modalitäten einer Lockerung der Massnahmen und die zu berücksichtigenden Risiken vor der Entdeckung und Zulassung eines Impfstoffes austauschen.
Es ist zu hoffen, dass die durch das Coronavirus ausgelöste Krise die Verknüpfung von Wissenschaft und Politik stärken wird. Denn im Land von Wissen und Innovation ist diese zu schwach. Die mangelnde Verknüpfung zwischen Wissenschaft und Politik nimmt in den Vereinigten Staaten eine dramatische Wendung. Dasselbe gilt aber auch für viele europäische Staaten, die trotz der bemerkenswerten Reaktionen ihrer Gesundheitsämter teilweise nicht auf den Ausbruch der Pandemie vorbereitet waren. Zahlreiche Fachleute warnten indes lange im Voraus vor einem solchen Risiko.
Denn letztendlich ist es die Aufgabe der Wissenschaft, uns daran zu erinnern, dass es in dieser Welt mehr Ungewissheiten als Gewissheiten gibt. Politikerinnen und Politiker müssen Entscheide fällen, Massnahmen ergreifen und Krisen managen, aber sie können sich auf die Wissenschaft stützen, um vorausschauend zu agieren, Dogmen in Frage zu stellen und alle plausiblen Szenarien in Betracht zu ziehen. Diese Chance wurde bei der Vorbereitung auf eine Pandemie eindeutig verpasst, doch sie kann genutzt werden, um einen Weg aus einer Krise zu finden. Das gilt auch für den Ausblick auf die Bereiche Wirtschaft, Klima, Sicherheit oder Ernährung. Bis heute gibt es jedoch keine formale Struktur für einen vertieften und sachkundigen Dialog zwischen den Vertretenden aus Politik und Wissenschaft.
Die beiden Welten betrachten einander schon zu lange wie Hund und Katze. Die Politik stand einer Wissenschaft kritisch gegenüber, die keine eindeutigen Fakten schafft; die Wissenschaft war distanziert gegenüber einer Politik, die sie als zu stark vereinfachend wahrnahm. Heute können wir sehen, wie wichtig diese Partnerschaft für das Funktionieren unserer Gesellschaft ist. Denn letztlich, so der Philosoph Edgar Morin, seien Wissenschaft und Demokratie zwei menschliche Lebenswelten, die beide auf der Diskussion von Ideen beruhen.
Also: Lasst uns debattieren, austauschen, unsere Zweifel und seltenen Gewissheiten teilen und das Wissen der hervorragenden Köpfe bündeln, auf die unsere Hochschulen und Forschungsinstitutionen stolz sein dürfen. So können wir dem Parlament, der Bundesverwaltung und dem Bundesrat eine echte Struktur der wissenschaftlichen Beratung vorschlagen! Das ist die Chance der laufenden Legislaturperiode.
Dieser Standpunkt wurde auf der Website des Netzwerks FUTURE veröffentlicht.